Die Entwicklung einer regulierten Medizinprodukt-Software nach Medical Device Regulation (MDR) geht mit Aufwand und Kosten einher. Es müssen die Vorgaben der MDR eingehalten und gleichzeitig die Konformität mit relevanten Normen (ISO 13485, IEC 62304, ISO 14971, IEC 62366 etc.) sichergestellt werden für eine Zertifizierung.

Diese Kosten müssen sich am Ende für Ihr Unternehmen natürlich auch strategisch und finanziell lohnen.

In diesem Artikel fassen wir die wichtigsten Empfehlungen zusammen, die Sie bei der Planung und Umsetzung Ihrer Medical Software oder Medical App beachten sollten. Unabhängig davon, ob Sie nun ein Clinical Decision Support System (CDSS) für Ärzte oder eine digitale Gesundheitsanwendung für Patienten entwickeln, sollten einige grundlegende Dinge beachtet werden, um Stolpersteine auf dem Weg zur Zertifizierung gekonnt zu umgehen.

1. Priorisieren Sie einen zeitnahen Marktstart

Gewinnbringende Geschäftsmodelle im Gesundheitswesen zu etablieren, erfordert Zeit. Wenn Sie z.B. Krankenkassen oder potenzielle B2B-Kunden von Ihrer Software-Lösung überzeugen möchten, werden Sie ggf. viel Zeit in Besprechungen und Verhandlungen verbringen. Dies kann sich Monate oder sogar Jahre in die Länge ziehen. Je später Sie mit diesen Erstkontakten beginnen, desto später können Sie mit Ihrer Lösung Umsatz generieren.

Um in diese Besprechungen einzusteigen, benötigen Sie jedoch meistens schon einen funktionierenden Prototyp (bzw. MVP) oder sogar ein zertifiziertes Software-Medizinprodukt inklusive wissenschaftlicher Evidenz über den medizinischen Mehrwert und/oder Kosteneinsparungspotenziale.

Daher sollten Sie sich in der Planung Ihrer Software-Features nicht verlaufen. Fokussieren Sie sich auf die Kernfunktionen und setzen Sie erstmal nur diese Kernfunktionen um. Alle Erweiterungen, die nicht unbedingt nötig sind („nice-to-have“), sollten Sie eventuell erst später umsetzen.

Um dies nochmal zu betonen: Je mehr Zeit Sie für die Planung und Umsetzung der ersten Produkt-Version benötigen, desto später können Sie Umsatz am Markt generieren. Sales-Zyklen am Gesundheitsmarkt sind lang. Fangen Sie nicht zu spät damit an.

Planung ist gerade bei regulierten Medizinprodukten enorm wichtig. Optionale Zusatz-Features können aber auch bei Medizinprodukt-Software teilweise auf spätere Produkt-Versionen verschoben werden.

Unsere Empfehlung:
Starten Sie mit etwas Einfachem, das dennoch einen hohen Mehrwert für Ihre Zielgruppe mit sich bringt. Versuchen Sie, schnell auf den Markt zu kommen. Um Erweiterungen, weitere Apps, oder stark innovative Features können Sie sich im nächsten Schritt kümmern.

2. Nutzen Sie vorhandene wissenschaftliche Evidenz

Um Ihr Software-Medizinprodukt auf den Markt zu bringen, müssen Sie unter anderem wissenschaftlich nachweisen, dass Ihr Produkt den angestrebten medizinischen Zweck erfüllt.

Für Produkte der Risikoklasse IIa oder höher müssen Sie hierfür womöglich eine aufwendige klinische Prüfung (Studie für Ihr Medizinprodukt) durchführen. Für Produkte der Risikoklasse I (gerade Produkte, die auf existierende medizinische Leitfäden aufsetzen) reicht der Aufsichtsbehörde gegebenenfalls eine systematische Literatur-Recherche. 

Wenn Ihr Produkt also existierende medizinische Leitfäden oder Methoden digitalisiert, können Sie potenziell die existierende wissenschaftliche Evidenz nutzen, um Ihr Produkt zu validieren. Sie benötigen somit eventuell keine kostspielige klinische Studie bzw. klinische Prüfung. Ob dies für Ihr Produkt wirklich ausreichend ist, muss natürlich im Einzelfall abgeklärt werden.

Wenn Ihr Produkt allerdings hochgradig innovativ ist und Sie komplett neue Methoden entwickeln, liegt hierfür natürlich noch keine Evidenz vor. Sie müssen diese Evidenz selbst generieren und z.B. eine klinische Studie durchführen. Wenn Sie triftige Gründe haben anzunehmen, dass Ihr Produkt einen medizinischen Nutzen nachweisen kann und am Markt viel Umsatz generieren wird, kann sich eine solche klinische Studie lohnen. Dies hängt vom Produkt und Anwendungsfall ab.

Unsere Empfehlung:
Für den initialen Marktstart sollten Sie versuchen, erstmal existierende wissenschaftliche Evidenz zu nutzen, wenn dies möglich ist. Dies ermöglicht Ihnen potenziell einen deutlich schnelleren Marktstart ohne klinische Prüfung/Studie. Später werden Sie ggf. trotzdem weitere Studien zu Ihrem Produkt fahren (dies hilft auch ungemein bei der Vermarktung Ihres Produkts). Zu diesem Zeitpunkt ist Ihr Produkt aber im Optimalfall bereits am Markt und generiert Umsatz – eine deutlich angenehmere Ausgangslage.

3. Visieren Sie Risikoklasse I an

Aktuell herrscht weiterhin Unsicherheit, ob es unter MDR in Zukunft noch Software-Medizinprodukte der Risikoklasse I geben wird. Die aktuelle Situation (Stand 2025) beschreiben wir in unserem Fachartikel hier.

Kurz zusammengefasst: Es existiert eine gesetzliche Grauzone mit Interpretationsspielraum. In vielen Bundesländern ist aktuell aber weiterhin eine Zulassung unter Risikoklasse I möglich.

Bisher sind zum Beispiel fast alle unter MDR zugelassenen Anwendungen im DiGA-Verzeichnis der Risikoklasse I zugeordnet. In unserem DiGA-Verzeichnis für Hersteller können Sie sich darüber einen konkreten Überblick verschaffen.

Ob auch Ihr Medizinprodukt in die Risikoklasse I fällt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Lesen Sie dafür den oben erwähnten Artikel.

Generell geht mit einer Software der Risikoklasse IIa erheblicher Mehraufwand und Zusatzkosten für die Zertifizierung mit einer Benannten Stelle einher. Es kann sich lohnen, die Anwendung und vor allem die Zweckbestimmung so zu definieren, dass Ihr Produkt unter die Risikoklasse I fällt.

Uns ist natürlich vollkommen klar, dass eine entsprechende Änderung am Konzept nicht für jedes Produkt möglich ist. Da es aber insbesondere bei Produkten, die von Patienten verwendet werden, durchaus häufig funktionieren kann, lohnt es sich unter Umständen, über diesen Punkt nachzudenken.

Gerne beraten wir Sie hierzu und evaluieren, ob Risikoklasse I für Ihr Produkt klappen könnte.

Unsere Empfehlung:
Definieren Sie die Zweckbestimmung Ihrer Anwendung so, dass eine Klassifizierung nach Risikoklasse I potenziell möglich ist. Ab Risikoklasse IIa kommt erheblich mehr Aufwand auf Sie zu. Im Notfall können Sie Ihr Produkt später noch auf Risikoklasse IIa hochstufen und sich hierfür eine benannte Stelle suchen.

4. Wählen Sie die richtige Zielgruppe

Die gewählte Zielgruppe und der Verwendungszweck Ihrer Medizinprodukt-Software bestimmt maßgeblich über den Erfolg Ihrer Unternehmung. Relevante Fragen, die Sie evaluieren sollten, könnten sein:

Frage Beispiel

Ist diese Zielgruppe digital affin?

Gibt es eine ähnliche Zielgruppe, die digital-affiner wäre?

Wenn das Produkt von pflegebedürftigen Personen verwendet werden soll, ist das Durchschnittsalter der Zielgruppe vermutlich verhältnismäßig hoch. Die Zielgruppe ist daher weniger digital-affin als z.B. eine 20-jährige Patientin. Welche besonderen Bedürfnisse gilt es zu beachten? Könnten Sie stattdessen die Angehörigen der pflegebedürftigen Personen adressieren? Denn das sind oft junge Personen, die z.B. ihren pflegebedürftigen Eltern helfen und finanzielle Entscheidungen für diese treffen.
Adressieren Sie einen vorhandenen großen Schmerzpunkt Ihrer Zielgruppe oder ist Ihre App nur ein nice-to-have für diese Zielgruppe? Viele Patienten mit mentalen Problemen haben mit langen Wartezeiten für Psychotherapeuten zu kämpfen. Diese Wartezeit stellte bisher eine Versorgungslücke dar, die nun viele Startups im Bereich Mental Health versuchen zu schließen. Der Leidensdruck der Zielgruppe ist groß und die Zielgruppe größtenteils digital affin, weshalb die Zielgruppe potenziell hohes Interesse an einer digitalen Anwendung hat.

Ist der Arzt oder der Patient Ihre Hauptzielgruppe?

 

Einem Produkt, das nur funktioniert, wenn sowohl Patienten und Ärzte an Bord sind, stehen große Hürden beim Marktzugang bevor. Sie müssen bei beiden Zielgruppen eine kritische Masse an Menschen erreichen. Fokussieren Sie sich daher lieber (falls möglich) erstmal nur auf eine der beiden Parteien und bauen Ihr Produkt so auf, dass es auch ohne Mitwirken der anderen Partei funktionieren könnte. Später können Sie Stück für Stück auch die andere Partei in Ihre Lösung involvieren.

Dies sind nur einige der relevanten Punkte bei der Wahl der Zielgruppe, aber es soll Ihnen ein Verständnis geben, wie wichtig die präzise Definition der richtigen Zielgruppe für Ihr Produkt ist.

Unsere Empfehlung:
Führen Sie qualitative Interviews durch, recherchieren Sie zusätzliche Daten und testen Sie Ihr Produkt mithilfe eines Click-Dummies an Ihrer Zielgruppe. Somit können Sie frühzeitig erkennen, ob Sie die richtige Zielgruppe gewählt haben bzw. ob das Produkt zur Zielgruppe passt und vermeiden kostspielige Strategiewechsel im späteren Produktverlauf.

5. Nehmen Sie Datensicherheit und Datenschutz ernst

Die Datensicherheit und der Datenschutz laufen Gefahr während der Produktentwicklung zu niedrig priorisiert zu werden. Dies liegt auch daran, dass der Nutzen von Datensicherheit leider erst dann klar wird, wenn es schon zu spät ist und z.B. ein Angreifer die Daten Ihrer Patienten gestohlen hat. Ein solches Daten-Leck kann neben möglichen Strafzahlungen einen massiven Reputationsschaden an Ihrem Unternehmen und Produkt anrichten. Dies sollten Sie natürlich auf das Nötigste vermeiden.

Leider bringt die Umsetzung des Datenschutzes nach DSGVO und der Datensicherheitsmaßnahmen einen entsprechenden Aufwand mit sich. Sie brauchen Experten, die sich in diesem Gebiet auskennen und einen strukturierten Ansatz, um nicht nur technische, sondern auch organisatorische Datensicherheits-Risiken zu mitigieren. Hierfür gibt es existierende Leitfäden und Standards, die Sie nutzen sollten (z.B. Technische Richtlinien vom BSI, Leitfäden der OWASP Foundation und Normen wie die ISO 27001 und die IEC 81001-5-1).

Gerade der organisatorische Teil der Datensicherheit wird bei IT-orientierten Teams oft unterschätzt. Angreifer kommen aber nicht nur über Software-Schwachstellen an Ihre Daten, sondern nutzen manchmal auch die menschliche Schwachstelle z.B. mithilfe von “Social Engineering” gezielt aus.

Unsere Empfehlung:
Nehmen Sie das Thema Datensicherheit und Datenschutz sehr ernst. Bauen Sie intern Cyber-Security- und Datenschutz-Kompetenz auf oder arbeiten nur mit Dienstleistern, die nachweislich Datensicherheits-Prozesse (z.B. ein Information Security Management System nach ISO 27001 und IEC 81001-5-1) etabliert haben und DSGVO-Konformität nachweisen können.

6. Machen Sie sich ein holistisches Bild über verschiedene Finanzierungsoptionen

Je nachdem, ob Sie eine Patienten-App oder eine Software für Ärzte entwickeln, haben Sie viele verschiedene Finanzierungs-Optionen.

Eine Software für Healthcare Professionals könnte z.B. einzeln an Arztpraxen oder Kliniken verkauft werden, Fördermittel des Bundes nutzen oder durch Krankenkassen finanziert werden.

Eine Patienten-App könnte z.B. 

Die Entscheidung für die richtige Option sollten Sie mit Bedacht treffen. 

Unsere Empfehlung:
Evaluieren Sie vorab, welcher Finanzierungsweg am besten zu Ihrem Produkt und Ihrem Unternehmen passt. Sprechen Sie uns gerne an, um Erfahrungswerte von Unternehmen zu hören, die solche Wege schon mit Ihren Produkten gegangen sind. Wir vermitteln dann auch gerne einen Berater aus unserem Netzwerk, der sich mit dem Market Access für Software-Medizinprodukte auskennt. Klären Sie dies unbedingt frühzeitig, weil durch das gewählte Finanzierungsmodell ggf. Zusatzanforderungen an Ihr Produkt oder die nötige wissenschaftliche Evidenz gestellt werden.

Sieben weitere Tipps zur Zertifizierung erhalten Sie in unserem Whitepaper…

Alle weiteren Zertifizierungs-Tipps finden Sie in unserem Medizinprodukt-Whitepaper. Einfach über das Formular downloaden.

 

Fazit: Erhöhen Sie die Erfolgswahrscheinlichkeit Ihrer Medizinprodukt-Software

Die Entwicklung einer Medizinprodukt-Software ist durch die regulatorischen Hürden kein Unterfangen, das unterschätzt werden sollte. Mit guter Planung und der richtigen Beratung können Sie die Chancen für den erfolgreichen Markteintritt stark erhöhen. Wir hoffen, dass Ihnen die obigen Empfehlungen helfen, unnötigen Aufwand und potenzielle Risiken zu vermeiden.

Weitere Informationen zu Themen wie dem Medizinprodukt-Zulassungsprozess, der Durchführung einer klinischen Bewertung für Ihre Software und sonstigen Themen im Qualitätsmanagement finden Sie auf der Übersichtsseite unseres DiGA- und Medical Software-Blogs.

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