“Klinische Bewertung? Kein Problem!”
“Da wurde doch letztens eine Ärztin in der Süddeutschen interviewt! Die hat eindeutig gesagt, dass Mindfulness-Apps bei Depressionen helfen. Darauf können wir uns doch berufen, oder?”
So einfach ist das leider nicht. Unser überspitztes Beispiel würde die Aufsichtsbehörde oder eine benannte Stelle natürlich nicht überzeugen, denn die Medical Device Regulation (MDR) verlangt für Medizinprodukte ausführliche klinische Evidenz. Selbstverständlich sind auch Software-Medizinprodukte davon nicht ausgenommen.
In diesem Artikel erfahren Sie, welche Dokumente mit welchen Inhalten Sie erstellen müssen und wie Sie um das Schreckensgespenst einer klinischen Prüfung herumkommen können.
Gut zu wissen:
In diesem Artikel (wie auch in der MDR) werden zwei Begriffe voneinander unterschieden: klinische Bewertung (clinical evaluation) und klinische Prüfung (clinical investigation). Die klinische Bewertung umfasst die gesamte Sammlung klinischer Evidenz für ein Medizinprodukt. Dazu zählt die Planung der Suche klinischer Daten, dessen Durchführung und regelmäßige Aktualisierung. Die klinische Prüfung hingegen ist eine wichtige Quelle für ebenjene klinische Evidenz – und in den meisten Fällen mit sehr viel Aufwand verbunden, da Sie hier eine eigene Studie durchführen müssen.
Fokus dieses Artikels
Der Artikel fokussiert sich auf die klinische Bewertung von Medizinprodukten nach MDR. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Software-Medizinprodukten, jedoch sind die meisten Inhalte auch auf andere Medizinprodukte übertragbar. Zudem verraten wir Ihnen, wie Sie im besten Fall sogar auf eine klinische Prüfung verzichten können.
Die Informationen in diesem Artikel stammen aus der MDR, der MEDDEV 2.7/1 revision 4, sowie verschiedenen MDCG Guidance Dokumenten und werden hier zusammengefasst.
Inhalte
- Ziel der klinischen Bewertung
- Welche Dokumente erfordert die MDR?
- Muss ich eine klinische Bewertung durchführen (auch bei Klasse I)?
- Muss ich die klinische Bewertung selbst erstellen?
- Hilfreiche Quellen
- Fazit
Ziel der klinischen Bewertung
Das fundamentale Ziel der klinischen Bewertung ist der Beweis, dass ein Medizinprodukt die vom Hersteller definierte Zweckbestimmung erfüllt. Dabei sollen die angegebenen Leistungs- und Sicherheitsanforderungen nachgewiesen und unerwünschte Nebenwirkungen ausgeschlossen werden.
Zum Teil deckt sich dieses Ziel auch mit dem Risikomanagement, bei dem potenzielle Gefahren, die vom Produkt ausgehen, analysiert werden. Wenn man so will, findet die Symbiose von Risikomanagement und klinischer Bewertung in der Nutzen-Risiko-Abwägung statt.
Eine fundierte klinische Bewertung ist notwendig, damit man die Restrisiken dem evidenzbasierten Nutzen gegenüberstellen und bewerten kann.
Welche Dokumente erfordert die MDR?
Wenn Sie sich mit Regulatorik von Medizinprodukten eine Zeitlang beschäftigen, ist es nichts Neues mehr, dass fast alles, was ein Hersteller macht, auch festgehalten werden muss.
Auch bei der klinischen Bewertung hat die MDR klare Vorgaben, welche Dokumente vom Hersteller erstellt und gepflegt werden müssen. Diese Vorgaben sind zum Teil jedoch sehr abstrakt und werden durch eine Handvoll Guidance-Dokumente (z.B. MDCG) ergänzt.
Wir möchten in diesem Kapitel die Inhalte der vier Dokumente erläutern, die in Ihrer technischen Dokumentation enthalten sein müssen:
- Klinischer Bewertungsplan (Clinical evaluation plan)
- Bericht über die klinische Bewertung (Clinical evaluation report)
- Plan zur klinischen Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (Post-market clinical follow-up plan)
- Bericht über die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (Post-market clinical follow-up report)
Klinischer Bewertungsplan (Clinical evaluation plan)
Der klinische Bewertungsplan ist das erste Dokument, das im Zuge der klinischen Bewertung erstellt wird. Er beschreibt – wie der Name schon sagt – die geplanten Aktivitäten während der klinischen Bewertung, sowie Anleitungen zur Suche klinischer Daten und Kriterien für deren Bewertung.
Betrachten wir am besten die einzelnen Anforderungen der MDR an den klinischen Bewertungsplan, um ein klareres Bild von den Informationen zu bekommen, die enthalten sein müssen:
Bestimmung der grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen, die mit relevanten klinischen Daten zu untermauern sind;
- Werfen Sie einen Blick in den Anhang I der MDR, um die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen für Ihr Produkt zu identifizieren. Im Anschluss überprüfen Sie, für welche Anforderungen noch klinische Daten benötigt werden. Die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen beschreiben alle Anforderungen, die ein Medizinprodukt erfüllen muss. Beispiele hierfür sind Vorgaben an die chemische Zusammensetzung und das Labeling. Wie Sie schon erkennen können, ist nicht jede Anforderung für jedes Produkt zutreffend. Gerade auf reine Software-Produkte können viele Anforderungen nicht angewandt werden. Es liegt beispielsweise auf der Hand, dass Themen wie “chemische, physikalische und biologische Eigenschaften” oder “Schutz for Strahlung” für Software-Code wenig Relevanz haben. Andere Anforderungen hingegen, wie die ausreichende Genauigkeit von Messfunktionen oder die Fähigkeit zur Erfüllung der Zweckbestimmung bei der Anwendung durch Laien könnten für Software-Produkte durch klinische Daten untermauert werden.
Spezifizierung der Zweckbestimmung des Produkts;
- Vermutlich haben Sie bereits eine Zweckbestimmung für Ihr Produkt geschrieben. Falls nicht, sollten Sie sich schleunigst damit befassen! Die Zweckbestimmung wird Ihnen bei der Entwicklung eines Medizinprodukts noch häufiger über den Weg laufen. Diese ist unter anderem auch der entscheidende Faktor, wenn es um die Bestimmung der Risikoklasse geht und legt fest, welchen Sinn Ihr Produkt überhaupt hat. Eine frühzeitige Definition hilft also nicht nur bei der klinischen Bewertung. Eine Anleitung zur Formulierung der Zweckbestimmung finden Sie in diesem Artikel: Formulierung der Zweckbestimmung für (Software-)Medizinprodukte
Genaue Spezifizierung der vorgesehenen Zielgruppen mit klaren Indikationen und Kontraindikationen;
- Dieser Punkt ist fast selbsterklärend, bedenken Sie aber bei der Spezifizierung der Zielgruppen auch verschiedene Anwendergruppen. Beispielsweise wird Ihre Software von MedizinerInnen verwendet und nicht nur von PatientInnen. Zusätzlich kann es hilfreich sein, neben der Indikation auch weitere Parameter zur Eingrenzung der Zielgruppe heranzuziehen (z.B. Alter, Sprachkenntnisse, etc.). Berücksichtigen Sie auch die Liste in Appendix A3 der MEDDEV-2.7/1 revision 4, um relevante Einschlusskriterien zu identifizieren.
Detaillierte Beschreibung des angestrebten klinischen Nutzens für die Patienten, mit relevanten konkreten Parametern für das klinische Ergebnis;
- Die MDR definiert den klinischen Nutzen folgendermaßen: „klinischer Nutzen“ bezeichnet die positiven Auswirkungen eines Produkts auf die Gesundheit einer Person, die anhand aussagekräftiger, messbarer und patientenrelevanter klinischer Ergebnisse einschließlich der Diagnoseergebnisse angegeben werden, oder eine positive Auswirkung auf das Patientenmanagement oder die öffentliche Gesundheit;
- Ein klinischer Nutzen könnte also sein, dass sich die Lebensqualität eines Menschen verbessert. Im zweiten Schritt stellt sich die Frage, wie dieser Nutzen gemessen werden kann. Hier müssen Sie also einerseits definieren, welchen klinischen Nutzen Ihr Produkt anstrebt und wie Sie planen, diesen Nutzen nachzuweisen. Hierzu liefert der Appendix 7.2 der MEDDEV-2.7/1 revision 4 zusätzlichen Input.
- Der klinische Nutzen beschreibt die erwartete Leistung eines Produkts, welche aus der Zweckbestimmung abgeleitet wird. Er hat die Eigenschaft, dass er klar beobachtbar sein muss. Daher sollten Sie hier konkret messbare Faktoren spezifizieren, wie z.B. “Reduktion depressiver Symptomatik” oder “Steigerung der Lebensqualität”.
Spezifizierung der für die Prüfung der qualitativen und quantitativen Aspekte der klinischen Sicherheit anzuwendenden Methoden unter deutlicher Bezugnahme auf die Bestimmung der Restrisiken und Nebenwirkungen;
- Methoden, die angewandt werden, um die klinische Sicherheit des Produkts, insbesondere auch Restrisiken und Nebenwirkungen zu evaluieren. Entscheidend ist hierbei die Bewertung von gefundenen klinischen Daten. Dazu zählt unter anderem, welche Datenbanken Sie durchsuchen möchten, welche Suchfilter Sie anwenden und nach welchen Kriterien Sie gefundene Quellen bewerten. Beispielsweise sollte aus Ihrem Dokument hervorgehen, dass eine randomisierte kontrollierte Studie mehr Aussagekraft hat, als ein Experteninterview. Kapitel 9.3.2. Der MEDDEV-2.7/1 revision 4 liefert hilfreiche Informationen zur Bewertung der Relevanz von Quellen. Eine spannende Liste an Bewertungskriterien für Studien finden Sie im Appendix 6 dieses Dokuments. Diese umfasst beispielsweise die Stichprobengröße und die Offenlegung der angewandten Methoden.
Nichterschöpfende Liste und Spezifizierung der Parameter zur auf dem neuesten medizinischen Kenntnisstand beruhenden Bestimmung der Vertretbarkeit des Nutzen-Risiko-Verhältnisses für die verschiedenen Indikationen und die Zweckbestimmung bzw. Zweckbestimmungen des Produkts;
- Hier werden die Parameter spezifiziert, um die Vertretbarkeit des Nutzen-Risiko-Verhältnisses zu bewerten. Wichtig ist es hierbei, den aktuellen medizinischen Kenntnisstand mit einzubeziehen und auch die Wirksamkeit und Risiken anderer Methoden zu berücksichtigen.
Angabe, wie Fragen hinsichtlich des Nutzen-Risiko-Verhältnisses für bestimmte Komponenten wie die Verwendung pharmazeutischer, nicht lebensfähiger tierischer oder menschlicher Gewebe zu klären sind […];
- Dieser Punkt kann von Software-Herstellern ignoriert werden.
Klinischer Entwicklungsplan: von explorativen Studien, wie Studien zur Erstanwendung am Menschen („First-in-man“-Studien), Durchführbarkeitsstudien und Pilotstudien bis hin zu Bestätigungsstudien, wie pivotale klinische Prüfungen, und einer klinischen Überwachung nach dem Inverkehrbringen gemäß Teil B dieses Anhangs, unter Angabe von Etappenzielen und Beschreibung möglicher Akzeptanzkriterien;
- Der klinische Entwicklungsplan umfasst alle Schritte, die zur Sammlung und Schaffung klinischer Daten geplant sind. Gemeint sind hierbei insbesondere wissenschaftliche Untersuchungen, die Sie zu Ihrem Produkt planen.
- Im klinischen Entwicklungsplan werden auch geplante klinische Prüfungen angegeben und auf die entsprechenden Dokumente verwiesen.
- Auch eine geplante Literaturrecherche wird unter diesem Punkt abgebildet.
Wenn Sie planen, die klinische Bewertung unter Bezugnahme auf ein oder mehrere gleichartige Produkte durchzuführen, können Sie in diesem Plan auch schon die Produkte listen, welche auf Gleichartigkeit untersucht werden. Die Gleichartigkeit wird im Bericht über die klinische Bewertung demonstriert.
Bericht über die klinische Bewertung (Clinical evaluation report)
Nachdem der klinische Bewertungsplan das zentrale Vorgehen bei der klinischen Bewertung beschreibt, enthält der Bericht alle daraus resultierenden Daten, die zur klinischen Bewertung herangezogen werden. Er resultiert sozusagen aus dem klinischen Bewertungsplan und enthält eine Aussage dazu, ob Ihr Produkt seine Zweckbestimmung und grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen erfüllt (einen Leitfaden zur Formulierung Ihrer Zweckbestimmung finden Sie in diesem Artikel).
Ganz konkret sollte Ihr Bericht über die klinische Bewertung folgenden Anforderungen genügen (Appendix A10, MEDDEV-2.7/1 revision 4):
- Der Bericht muss für Drittparteien verständlich sein und die klinischen Daten so zusammenfassen, dass Ihre Aussagen und Schlussfolgerungen nachvollziehbar sind.
- Die vom Hersteller erzeugten Daten (z.B. Ergebnisse einer klinischen Prüfung) müssen zusammengefasst und referenziert sein.
- Beim Vergleich mit gleichartigen Produkten:
- Die Gleichartigkeit beider Produkte muss nachvollziehbar beschrieben werden.
- Alle Unterschiede zwischen Ihrem Produkt und dem gleichartigen Produkt müssen beschrieben werden. Zusätzlich benötigen Sie eine Erklärung, warum die Produkte dennoch als gleichartig zu betrachten sind.
- Der aktuelle Stand der Technik muss vollständig zusammengefasst und mit Literatur untermauert sein. Stand der Technik? Schon wieder ein Begriff, bei dem uns die MDR mit einer eindeutigen Definition im Stich lässt. Zum Glück gibt es eine nähere Spezifikation in der ISO 14971, wonach der Stand der Technik die gegenwärtig und allgemein anerkannte gute Praxis bei Technologie und Medizin umfasst. Es handelt sich also nicht um die technologisch und wissenschaftlich fortgeschrittensten Methoden, sondern um jene Produkte, Behandlungsmethoden, etc., welche in der Praxis bereits Anwendung finden und am Markt erhältlich sind.
- Der Bericht muss eine Erklärung beinhalten, warum das Nutzen-Risiko-Verhältnis in Bezug auf den Stand der Technik akzeptabel ist.
- Falls es Ihr Produkt in mehrfacher Ausführung gibt, müssen Sie erklären, dass die klinischen Daten für alle Varianten und Nutzergruppen ausreichend sind.
- Der Konformität mit allen zutreffenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen muss bestätigt werden.
- Der Bericht muss Aussage darüber enthalten, dass das von Ihnen bereitgestellte Informationsmaterial auch mit den Inhalten des Berichts übereinstimmt.
- Alle verbleibenden Risiken und unbeantworteten Fragen, müssen gelistet werden. Diese müssen dann in der Überwachung nach dem Inverkehrbringen (Post-Market Surveillance) adressiert werden.
- Der Bericht muss ein Datum haben und die Lebensläufe (oder andere Qualifikationsnachweise) der beteiligten Personen enthalten. Zudem benötigen Sie eine Interessenerklärung aller Beteiligten. Lassen Sie den finalen Bericht am besten von allen unterschreiben.
Klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (Plan und Bericht)
Die klinische Bewertung vor dem Markteintritt eines Produkts ist nur eine Momentaufnahme und bildet den aktuellen Kenntnisstand ab – dieser kann sich bekanntlich ändern. Beispielsweise führen MedizinerInnen heute keinen Aderlass mehr durch und verzichten auf den Einsatz von Zigaretten bei Kopfschmerzpatienten. Doch diese Maßnahmen zählten irgendwann einmal zum aktuellen medizinischen Kenntnisstand. Deren schwerwiegende Folgen wurden erst über die Zeit erkannt.
Als Hersteller eines Medizinprodukts müssen Sie also sicherstellen, dass neue Erkenntnisse aus der Forschung und spezifisch zu Ihrem Produkt entdeckt werden – und dafür schreibt die MDR die “Klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen” vor. Im Englischen heißt diese “Post-market clinical follow-up” und lässt sich mit PMFC abkürzen.
Die PMCF beschreibt das kontinuierliche Sammeln und Analysieren klinischer Daten, die mit Ihrem Produkt in Verbindung stehen. Auch hier sollen Sie einen Plan und einen Bericht anfertigen.
Der PMCF Plan leitet sich aus dem klinischen Bewertungsplan und den offenen Fragen und Unklarheiten aus dem Bericht über die klinische Bewertung ab. Er beschreibt – ähnlich wie der klinische Bewertungsplan – die geplanten Aktivitäten in der PMCF Phase und viele Inhalte können auch eins zu eins übernommen werden.
Hierzu zählt zum Beispiel:
- Literaturrecherche in wissenschaftlichen Datenbanken
- Durchsuchung von Sicherheitsdatenbanken (z.B. BfArM safety database)
- Auswertung von Nutzerfeedback
- Durchführung von Studien zum Produkt
Der PMCF Plan definiert auch, in welchem Intervall diese Aktivitäten stattfinden. In jedem Zyklus wird dann ein PMCF Bericht erstellt, indem die jeweiligen Ergebnisse dokumentiert und deren Auswirkungen auf den Bericht über die klinische Bewertung beschreibt.
Wichtig: Relevante Erkenntnisse aus dem PMCF Bericht werden in den Bericht über die klinische Bewertung integriert. Außenstehende sollen in diesem Bericht über die klinische Bewertung also jederzeit das gesamte Wissen zum Produkt finden können – von der initialen Bewertung bis zum letzten PMCF Zyklus.
Für die PMCF Dokumente stellt die MDCG wertvolle Vorlagen bereit, an denen Sie sich orientieren können: MDCG 2020-7 für den Plan und MDCG 2020-8 für den Bericht.
Unterschied zwischen PMCF und Post-Market Surveillance
Praktisch gesehen ist die PMCF Teil der Überwachung nach dem Inverkehrbringen (Post-Market Surveillance (PMS)). Bei der PMS geht es in erster Linie darum, kontinuierlich zu überwachen, ob ein Medizinprodukt seinen gewünschten Zweck erfüllt und sicher ist. Relevante Informationen können aus verschiedenen Quellen stammen, wie etwa aus direktem User Feedback oder der Auswertung von Nutzungsdaten. Wenn Ihre PMCF ausschließlich auf Literatur basiert, kann man sie als Subset von PMS betrachten. Eine Unterscheidung der beiden Begriffe ist insbesondere dann sinnvoll, wenn im Zuge der PMCF auch klinische Prüfungen und andere Studien durchgeführt werden.
Muss ich eine klinische Bewertung durchführen (auch bei Klasse I)?
Ja, eine klinische Bewertung muss in jedem Fall durchgeführt werden und ist für alle Medizinprodukte – auch für Riskoklasse I – verpflichtend.
Der Aufwand, den man für die klinische Bewertung einrechnen muss, kann sich allerdings gravierend unterscheiden. Teilt man die klinische Bewertung in einzelne Arbeitspakete auf, merkt man schnell, dass es einen besonders großen Block gibt – die klinische Prüfung.
MDR Definition: „klinische Prüfung“ bezeichnet eine systematische Untersuchung, bei der ein oder mehrere menschliche Prüfungsteilnehmer einbezogen sind und die zwecks Bewertung der Sicherheit oder Leistung eines Produkts durchgeführt wird;
Konkret handelt es sich bei der klinischen Prüfung um eine wissenschaftliche Untersuchung, die beim BfArM angemeldet werden muss. Es ist klar, dass dies oft mit enormen Kosten und erheblichem Zeitaufwand verbunden ist. Das Ganze kann aber unter Umständen sogar vermieden werden. Wenn es ein sogenanntes gleichartiges Medizinprodukt gibt, welches Ihrem Produkt derart ähnlich ist, dass Sie sich auch auf die Daten dieses Produkts berufen können, kommt man um die klinische Prüfung herum. Konkret kann dies eine Zeitersparnis von mehreren Monaten bedeuten – ganz zu schweigen von den Kosten.
Wie man gleichartige Produkte unter der MDR findet
Vermutlich geht es Ihnen nun, wie den meisten Herstellern und Sie stellen sich die Frage, ob es in Ihrem Fall ein geeignetes Produkt gibt, das bereits als Medizinprodukt am Markt ist und zu dessen klinischen Daten Sie Zugriff haben. Doch wie finden Sie heraus, ob eine Gleichartigkeit besteht?
Dafür benennt die MDR konkrete Kriterien zum Abgleich der Gleichartigkeit zweier Produkte:
Technisch: Das Produkt ist von ähnlicher Auslegung, wird unter ähnlichen Anwendungsbedingungen angewandt, hat ähnliche Spezifikationen und Eigenschaften einschließlich […] Software-Algorithmen, verwendet gegebenenfalls ähnliche Bereitstellungsmethoden und hat ähnliche Funktionsgrundsätze und entscheidende Leistungsanforderungen.
Biologisch: Ist für Software irrelevant.
Klinisch: Das Produkt wird unter der gleichen klinischen Bedingung oder zum gleichen klinischen Zweck, einschließlich eines ähnlichen Schweregrads und Stadiums der Krankheit, an der gleichen Körperstelle und bei ähnlichen Patientenpopulationen in Bezug auf u.a. Alter, Anatomie und Physiologie angewandt, hat die gleichen Anwender und erbringt eine ähnliche, maßgebliche und entscheidende Leistung im Hinblick auf die erwartete klinische Wirkung für eine spezielle Zweckbestimmung.
Für Software-Hersteller bleiben also zwei Punkte übrig: klinische und technische Gleichartigkeit. Die klinische Gleichartigkeit ist vergleichsweise einfach zu überprüfen. Ein Blick in die Zweckbestimmung oder Bedienungsanleitung anderer Anwendungen sollte hier bereits einen guten Aufschluss geben. Je nachdem, in welchem Entwicklungsstadium das eigene Produkt ist, können Hersteller hier auch z.B. noch Anpassungen bei ihrem Produkt oder der angestrebten Zielgruppe vornehmen, um Gleichartigkeit zu gewährleisten. Gerade bei einem initialen Markteintritt kann dies durchaus sinnvoll sein.
Bei der Prüfung der technischen Gleichartigkeit wird es allerdings schon schwieriger. Einer der entscheidenden Punkte ist hierbei die Bewertung der Software-Algorithmen. Aber bis wohin wird ein Algorithmus als “ähnlich” definiert? Müssen zwei Algorithmen den exakt gleichen Softwarecode haben, um gleichartig zu sein? Ist die Auswertung zweier Fragebögen ähnlich, wenn bei beiden ein Summen-Score berechnet wird, selbst wenn sich die Fragen inhaltlich voneinander unterscheiden? Ist der Algorithmus zur Steuerung eines Blutdruckmessgeräts ähnlich wie jener zur Steuerung des Geräts von einem anderen Hersteller?
Fragen über Fragen, die auf Basis der verfügbaren Informationen nur schwer zu beantworten sind. Zumindest gibt es hierzu eine genauere Ausführung in der MDCG 2020-5, welche auch eine hilfreiche Tabelle in Anhang I beinhaltet. Diese besagt, dass es vorrangig um die Funktionsgrundsätze und die Zweckbestimmung geht, wenn man Software Algorithmen miteinander vergleicht. Glücklicherweise ist es laut MDCG nicht notwendig, eine Äquivalenz des Softwarecodes zu beweisen.
Zitat aus der MDCG 2020-5: “It is the functional principle of the software algorithm, as well as the clinical performance(s) and intended purpose(s) of the software algorithm, that shall be considered when demonstrating the equivalence of a software algorithm. It is not reasonable to demand that equivalence is demonstrated for the software code, provided it has been developed in line with international standards for safe design and validation of medical device software.” – Achtung: Die MDCG-Dokumente und deren Interpretationen der MDR sind rechtlich nicht bindend. Jedoch gelten sie als die wohl valideste Quelle zur Umsetzung der MDR-Anforderungen.
Ein wichtiger Hinweis an dieser Stelle: Wenn Sie sich auf ein gleichartiges Produkt beziehen, müssen Sie auch einen geeigneten Zugang zu den dazugehörigen klinischen Daten haben. Dabei durchsuchen Sie am besten zuerst wissenschaftliche Datenbanken nach relevanten Veröffentlichungen, oder Sie wenden sich direkt an den Hersteller. Eine relevante Anlaufstelle ist das Deutsche Register Klinischer Studien (DRKS). Das DRKS ist das zentrale Register für klinische Studien in Deutschland und Sie finden dort auch Untersuchungen zu Medizinprodukten.
Wenn man kein gleichartiges Produkt findet
Sollten Sie kein gleichartiges Produkt finden, gibt es für Sie leider nur eine Antwort: Sie müssen in den sauren Apfel beißen und eine klinische Prüfung durchführen. Es gibt eine Ausnahme, wenn Sie auf Basis von MDR, Artikel 61, Satz (10) begründen können, dass ein Nachweis auf Basis klinischer Daten für Ihr Produkt ungeeignet ist.
Muss ich die klinische Bewertung selbst erstellen?
Grundsätzlich ist die klinische Bewertung Teil der technischen Dokumentation Ihres Produkts, welche Sie als Hersteller erstellen und laufend pflegen müssen. Auch wenn Sie die Erstellung auch auslagern können, ist sie den meisten Fällen jedoch auch von Ihnen selbst durchführbar – auch wenn Sie nur begrenzte Vorkenntnisse haben.
Selbst Start-ups haben klinische Experten (MedizinerInnen oder anderen Menschen mit wissenschaftlichem Hintergrund) oft bereits an Bord, welche ein grundlegendes Verständnis von klinischen Studien haben. Sie profitieren von der Durchführung einer klinischen Bewertung insofern, als Sie und Ihr Team durch das Lesen klinischer Studien Ihren Markt und Ihre Zielgruppe besser verstehen. Sie erhalten einen wissenschaftlichen Einblick in wirksame und möglicherweise wirkungsloser Methoden und wissen auch nach dem Inverkehrbringen genau, worauf sie achten müssen und welche Daten in Zukunft relevant sind.
Bei der Durchführung einer klinischen Bewertung ist ein gewisses wissenschaftliches Verständnis wichtig, um die gefundenen Quellen einordnen und bewerten zu können. Wenn Ihnen Begriffe wie “randomisierte kontrollierte Studien”, “Stichprobengröße” und “statistische Signifikanz” nicht völlig fremd sind, haben Sie in den meisten Fällen gute Chancen, Ihre klinische Bewertung innerhalb weniger Wochen selbst zu erstellen (ausgenommen einer klinischen Prüfung).
Wir raten Ihnen auf jeden Fall dazu, sich zumindest grundlegend mit der Thematik auseinanderzusetzen – zu Beginn wirkt es oft komplizierter, als es eigentlich ist. Am Ende können Sie sich immer noch dazu entscheiden, das Thema auszulagern.
Für die Durchführung einer klinischen Prüfung lohnt es sich hingegen oft, einen entsprechenden Anbieter zu beauftragen. Diese haben bessere Möglichkeiten zur Rekrutierung von StudienteilnehmerInnen und sind mit dem Design und der Durchführung solcher Untersuchungen vertraut. Wer hier keine tiefgreifende Erfahrung mitbringt, läuft Gefahr Fehler zu machen, welche gravierende Auswirkungen haben können. Wird eine Studie beispielsweise falsch designt, könnte am Ende monatelange Arbeit umsonst gewesen sein. Geeignete Anbieter sind zum Beispiel Clinical Research Organizations (CRO), welche in den meisten Fällen über einen breiten Expertenpool im wissenschaftlichen, statistischen und medizinischen Bereich verfügen. Doch auch Hochschulen und Universitäten sind als Partner denkbar.
Achtung: Bei der Auswahl eines passenden Partners sollten Sie darauf achten, dass die durchgeführte Untersuchung auch den Anforderungen an klinische Prüfungen der MDR und des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes (nur für Deutschland relevant) genügt. Das trifft auf die meisten CRO zu, Universitäten sind hingegen in erster Linie am Erkenntnisgewinn und an Publikationen interessiert und mit harmonisierten Normen und Gesetzen nicht vertraut. Besprechen Sie Ihr Vorhaben also bereits vorab im Detail, damit es hier nicht zu Missverständnissen kommt.
Natürlich kann auch die gesamte klinische Bewertung ausgelagert werden. Das ist besonders dann hilfreich, wenn Sie selbst keine Erfahrungen mit klinischen Untersuchungen und den regulatorischen Anforderungen haben – oder wenn Sie es sich einfach leisten können und Angst davor haben, Fehler zu machen.
Ein Vorteil davon ist, dass Sie die Unabhängigkeit der involvierten Personen recht plausibel belegen können. Das kann bei der Rechtfertigung der klinischen Nachweise nach Außen helfen. Vorausgesetzt, niemand erhält einen Bonus, wenn die gefundenen Daten möglichst gut zu den Aussagen des Herstellers passen. Einem Gründer eines Health-Start-ups könnte man hingegen schon eher unterstellen, dass er sein Produkt in einem guten Licht dastehen lassen will und nur ausgewählte Fakten in seinen Bericht mit aufnimmt.
Die Nachteile hingegen sind die Kosten und das Know-How, das Ihrem Team dadurch eventuell verloren geht, wenn die Suche und Analyse klinischen Studien von Externen übernommen wird.
Hilfreiche Quellen
MDR: Zentrales Werk, aus dem die Notwendigkeit und alle Anforderungen an die klinische Bewertung abgeleitet werden.
MEDDEV-2.7/1 revision 4: Leitlinie zur Erstellung der klinischen Bewertung. Zwar wurde das Dokument nicht explizit für die MDR verfasst, jedoch sind die meisten Inhalte nach wie vor aktuell.
MDCG 2020-5: Leitlinie zur Evaluierung der Gleichartigkeit zweier Produkte
MDCG 2020-7: Vorlage für einen PMCF Plan
MDCG 2020-8: Vorlage für einen PMCF Bericht
Formulierung der Zweckbestimmung für (Software-)Medizinprodukte: Leitfaden zur Erstellung der Zweckbestimmung für Ihr Produkt
Klassifizierung von Software-Medizinprodukten: MDR-Leitfaden: Anleitung zum Finden der Risikoklasse Ihres Produkts nach MDR
Leitfaden: Ist Ihre App ein Medizinprodukt?: Hier erfahren Sie, ob es sich bei Ihrem Produkt um ein Medizinprodukt nach MDR handelt.
Fazit
Der Aufwand, der mit der klinischen Bewertung einhergeht, hängt enorm von der Notwendigkeit einer klinischen Prüfung und dem Umfang der Literaturrecherche ab. Zwar ist es unter der MDR möglich, sich auf gleichartige Produkte zu berufen, die bereits am Markt sind, jedoch bedarf diese Gleichartigkeit einer zufriedenstellenden Erklärung. Gerade für Start-ups ist es sehr sinnvoll, den Markt intensiv zu durchforsten, um derartige Produkte ausfindig zu machen. Schließlich sind klinische Prüfungen teuer und dauern mehrere Monate bis Jahre. Die Chancen, ein geeignetes Produkt zu finden, sind natürlich von Fall zu Fall unterschiedlich und beim Zugang zu den passenden klinischen Daten ist man im Zweifelsfall auf die Gunst des Herstellers angewiesen.
Auch wenn sich die klinische Bewertung erstmal sehr komplex anhört und nach viel Aufwand klingt, sollten sich auch kleinere Unternehmen und Start-ups nicht gleich abschrecken lassen. In vielen Fällen kann sie intern durchgeführt werden und bedarf keiner externer Dienstleister. Dabei können Unternehmen stark profitieren, da sie neues Wissen generieren und der Aufwand für klinische Bewertungen in Zukunft besser abgeschätzt werden kann. Falls eine klinische Prüfung für Ihr Produkt notwendig ist, sollte man externe Expertise jedoch in Betracht ziehen.
Falls Sie eine Medical App bzw. DiGA planen und Unterstützung bei der Entwicklung benötigen, setzen Sie sich gerne mit uns in Kontakt und wir besprechen das Ganze zusammen unverbindlich. Wir entwickeln Medical Apps und Medical Software für Unternehmen und Forschungseinrichtungen auf Auftragsbasis.
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