Hersteller von Gesundheitssoftware stehen in Deutschland vor einer zentralen Herausforderung: Wie lässt sich mit digitalen Lösungen im Gesundheitssystem Geld verdienen? Der Markt für Privatzahlerprodukte ist klein, und Patienten zeigen oft wenig Bereitschaft, für Software aus eigener Tasche zu zahlen. Gleichzeitig sind die bekannten Wege zur Erstattung, wie die Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis, Selektivverträge oder die DiPA-Klassifizierung, langwierig, komplex und oft nur für bestimmte Produktkategorien geeignet.
Die Realität für viele Digital Health-Unternehmen: Ohne Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen lässt sich im deutschen Gesundheitssystem schwer genug Geld verdienen, um langfristig als Firma zu überleben. Die Frage, die sich viele Hersteller stellen, lautet deshalb: Gibt es neben den bekannten Modellen weitere Wege, die Tür zur Erstattung zu öffnen?
Ein Ansatz, der bislang nur wenig Beachtung findet, ist die Listung von Software im Hilfsmittelverzeichnis (HMV) der GKV. Ursprünglich für physische Produkte wie Rollatoren, Hörgeräte oder Prothesen gedacht, stellt sich die spannende Frage, ob auch digitale Lösungen diesen Weg gehen können – und ob sich der Aufwand lohnt, ein Softwareprodukt als „Hilfsmittel“ zu positionieren.
In diesem Artikel zeigen wir, warum das Hilfsmittelverzeichnis ein potenzieller Weg zur Erstattung für Softwareprodukte ist, welche Anforderungen digitale Anwendungen erfüllen müssen, wie der Aufnahmeprozess abläuft und ob sich der Aufwand für Hersteller lohnt.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Vorteile für Hersteller bei Listung im Hilfsmittelverzeichnis
- 2. Definition eines Hilfsmittels
- 3. Das GKV-Hilfsmittelverzeichnis
- 4. Schritte zur Zulassung im Hilfsmittelverzeichnis
- 5. Qualifizierung: Eignung ihrer Software für das Hilfsmittelverzeichnis
- 6. Anforderungen an Software im Hilfsmittelverzeichnis
- 7. Antrag zur Aufnahme ins Hilfsmittelverzeichnis
- 8. Vergütung und Preisfindung mit den Krankenkassen
- 9. Fortschreibung der Produktgruppen
- 10. Beispiele: Gelistete Software-Produkten im Hilfsmittelverzeichnis
- 11. Warum gibt es kaum Standalone-Software im Hilfsmittelverzeichnis? (Hürden)
- 12. Weitere Wege in die Kostenerstattung durch Krankenkassen
- 13. Fazit: Lohnt sich das Hilfsmittelverzeichnis für Software-Hersteller?
1. Vorteile für Hersteller bei Listung im Hilfsmittelverzeichnis
Die Listung eines Produkts im Hilfsmittelverzeichnis der GKV bietet Ihnen als Hersteller einen zentralen Vorteil gegenüber z. B. Selektivverträgen: Alle gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland sind verpflichtet, Ihr Produkt zu erstatten. Sie müssen daher nicht separat jede Krankenkasse von Ihrem Produkt überzeugen, sondern können einem zentralisierten Antragsprozess folgen.
Bevor die tatsächliche Kostenerstattung erfolgt, müssen Hersteller jedoch die Vergütungshöhe klären. Hier gibt es zwei Optionen: Entweder tritt der Hersteller einem bestehenden Vertrag für eine Produktgruppe bei – dies garantiert einen schnellen Marktzugang, kann aber festgelegte Vergütungssätze bedeuten, die nicht immer ideal für Softwareprodukte sind. Alternativ können individuelle Vereinbarungen mit jeder Krankenkasse getroffen werden, was jedoch zeit- und ressourcenintensiv ist.
Dies ist ein entscheidender Unterschied zum DiGA-Verfahren, in welchem die Höhe der Erstattungsbeträge einmalig mit dem GKV-Spitzenverband (GKV-SV) verhandelt wird und dann für die Erstattung durch alle Krankenkassen gilt.
Aspekt | Hilfsmittelverzeichnis | DiGA | Selektivverträge |
Garantierter Zugang zu allen Krankenkassen | Ja, Antrag erlaubt Erstattung durch alle Krankenkassen | Ja, Antrag erlaubt Erstattung durch alle Krankenkassen | Nein, Selektivvertrag muss einzeln mit jeder Krankenkasse verhandelt werden |
Zentralisierte Vergütungsverhandlung | Nein, Vergütung individuell mit jeder Kasse vereinbaren oder existierenden Verträgen beitreten | Ja, Vergütungshöhe zentral mit GKV-SV verhandelt und einheitlich | Nein, Vergütung individuell mit jeder Kasse vereinbaren |
Trotzdem bleibt die Listung im Hilfsmittelverzeichnis eine attraktive Möglichkeit, digitale Produkte flächendeckend für Versicherte verfügbar zu machen. Die setzt jedoch voraus, dass Ihr Produkt in die Definition eines Hilfsmittels fällt.
2. Definition eines Hilfsmittels
Laut Definition des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) sind Hilfsmittel Gegenstände, die „im Einzelfall erforderlich sind, um durch ersetzende, unterstützende oder entlastende Wirkung den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen”.
Hilfsmittel können in ihrer Funktion u. a. als “Körperersatzstück” (§33 SGB V) dienen. Sie haben also die primäre Aufgabe, Menschen dabei zu unterstützen, eine spezifische Tätigkeit auszuführen, eine Einschränkung zu kompensieren oder ein Ziel zu erreichen, das ohne das Hilfsmittel schwieriger oder unmöglich wäre.
Allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens – bspw. ein Fieberthermometer – können kein Hilfsmittel sein. Ebenso wenig die in §34 SGB V ausgeschlossenen Hilfsmittel.
Klassische Hilfsmittel sind beispielsweise Rollstühle, Hörgeräte, Inkontinenzhilfen, Kompressionsstrümpfe oder Prothesen. Es sind also oft physische Gegenstände. Tatsächlich können aber auch reine Software-Produkte oder Apps in die Definition eines Hilfsmittels fallen. Das bestätigte das Bundessozialgericht erstmals im Jahr 2001.
Unterschied der Ziele zwischen DiGA und Hilfsmitteln
Zusammenfassend haben Hilfsmittel also das Ziel,
… den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern (§ 33 SGB V),
… eine drohende Behinderung vorzubeugen (§ 33 SGB V und § 47 SGB V)
… eine bereits vorhandene Behinderung auszugleichen (§ 33 SGB V und § 47 SGB V)
… eine Pflegebedürftigkeit zu vermeiden (§ 47 SGB V).
Erstattungsfähige Hilfsmittel sind im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbands gelistet.
3. Das GKV-Hilfsmittelverzeichnis
Das Hilfsmittelverzeichnis wird vom GKV-Spitzenverband gemäß § 139 SGB V erstellt und regelmäßig aktualisiert. Es listet Hilfsmittel auf, deren Kosten von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden können.
Das Hilfsmittelverzeichnis ist vergleichbar mit einem Katalog. Es dient u. a. als Orientierungshilfe für Versicherte und Leistungserbringer, indem es über erstattungsfähige Hilfsmittel sowie deren Art und Qualität informiert.
Das GKV-Hilfsmittelverzeichnis ist wie folgt gegliedert:
Produktgruppen > Untergruppen > Anwendungsort > Produktarten > Produkte
Screenshot aus dem GKV-Hilfsmittelverzeichnis
Das Hilfsmittel-Verzeichnis (HMV) ist öffentlich zugänglich unter: https://hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/home
Die Nummerierung der Produkte im Hilfsmittelverzeichnis folgt einer systematischen und hierarchischen Struktur, die eine klare Zuordnung und Übersichtlichkeit gewährleistet. Die Nummer setzt sich aus mehreren Ziffern zusammen: Die ersten beiden Ziffern kennzeichnen die Hauptproduktgruppe, die nächsten beiden Stellen spezifizieren den Anwendungsort sowie die Untergruppen. Am Ende steht die vierstellige, individuelle Produktnummer, wobei die erste Ziffer hierbei nochmals die Produktart klassifiziert.
Beispiel für die Produktnummerierung im Hilfsmittelverzeichnis –
Bildquelle: https://www.rehadat-gkv.de/hinweise/aufbau-des-verzeichnisses/
4. Schritte zur Zulassung im Hilfsmittelverzeichnis
Prozess der Beantragung eines Softwareprodukts für das GKV-Hilfsmittelverzeichnis
In der obigen Abbildung ist der Prozess von Anfang bis zur erfolgreichen Vergütung skizziert. Die wichtigsten Schritte sind Folgende:
- Qualifizierung: Eignet sich mein Produktkonzept überhaupt für die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis?
- Erfüllung der Anforderungen: Sie müssen alle allgemeinen und Produkt-spezifischen Anforderungen umsetzen, die zur Aufnahme ins HMV nötig sind.
- Antragsstellung: Sie müssen nun den Antrag ausfüllen und abschicken.
- Prüfung und Entscheidung: Sie erhalten innerhalb der gesetzlichen Fristen eine Rückmeldung und Entscheidung in Bezug auf Ihren Antrag.
- Vergütung mit Krankenkasse: Nach erfolgreicher Aufnahme in das HMV müssen Sie die Höhe der Vergütung mit den verschiedenen Krankenkassen bestimmen.
Nach Schritt 5 sind Sie erstattungsfähig und können über Ihr Produkt Einnahmen generieren. Alle Schritte dieses Prozesses werden in den folgenden Kapiteln im Detail erläutert.
5. Qualifizierung: Eignung Ihrer Software für das Hilfsmittelverzeichnis
Um herauszufinden, ob Ihr Produkt in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen werden kann, sollten Sie folgende Dinge prüfen.
5.1 Qualifizierungs-Check: Zweck Ihres Produkts
Wir haben zu Beginn bereits erfahren, dass auch Softwareprodukte unter die „Hilfsmittel“-Definition fallen können und dadurch auch im Hilfsmittelverzeichnis gelistet werden können.
Die große Herausforderung für Softwareprodukte besteht darin, nachzuweisen, dass die Software den Hilfsmittel-Charakter erfüllt – also bestimmten Behinderungen vorbeugt oder diese kompensiert. Wichtig ist, zu verstehen: Hilfsmittel sind keine Therapien. Sie können und sollen natürlich in ihrer Funktion, „den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern“ therapiebegleitend sein, aber ihre primäre Aufgabe ist die Sofort-Hilfe.
Um herauszufinden, ob Ihr Produkt im Hilfsmittelverzeichnisses gelistet werden kann, müssen Sie zuallererst prüfen, ob es die Kriterien eines Hilfsmittels erfüllt. Die Definition eines Hilfsmittels haben wir in dem obigen Abschnitt näher erläutert.
5.2 Qualifizierungs-Check: Kategorisierung zu einer Produktgruppe
Wenn Ihr Produkt potenziell in die Definition eines Hilfsmittels fällt, kommen wir zu Schritt 2: Es gilt nun eine existierende Produktgruppe im Hilfsmittelverzeichnis zu finden, in das Ihr Produkt hineinpasst.
Vorneweg: Aktuell gibt es keine eigene Produktgruppe für Standalone-Softwareprodukte oder mobile Apps im Hilfsmittelverzeichnis.
Das bedeutet: Wenn Sie eine Software als Hilfsmittel beantragen wollen, müssen Sie sich die einzelnen Produktgruppen ansehen und die jeweils individuellen Anforderungsprofile überprüfen.
Was, wenn Sie in keine Produktgruppe oder -Art passen? Falls Sie in keine existierende Produktgruppe passen, bleibt nur noch die Möglichkeit eine neue Produktgruppe zu beantragen. Dieser Prozess ist aber enorm aufwändig und zieht sich potenziell über viele Jahre. Daher ist dieser Weg für kaum einen Software-Hersteller erstrebenswert.
Der GKV schreibt zur Berücksichtigung von Innovationen im Hilfsmittelverzeichnis:
“Es werden auch neue Produkte zur Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis angemeldet, die in die bestehende Systematik nicht eingeordnet werden können, da eine entsprechende Produktuntergruppe bzw. -art noch nicht gebildet wurde. Daher wäre vor der Listung eines solchen Produktes zunächst eine Fortschreibung der betreffenden Produktgruppe erforderlich. Dies erfordert Zeit, da alle Beteiligungsrechte und Verfahrensschritte eingehalten werden müssen.”
Sie sollten also unbedingt eine existierende Produktgruppe finden. Falls dies nicht möglich ist, ist ggf. eher ein komplett anderer Erstattungsweg z.B. über Selektivverträge für Sie ratsam.
6. Anforderungen an Software im Hilfsmittelverzeichnis
Blicken wir zunächst auf die gesetzlich definierten Anforderungen. Das Sozialgesetzbuch V beschreibt in §139 Absatz 2, ein Hilfsmittel sei dann ins Hilfsmittelverzeichnis aufzunehmen,
„wenn der Hersteller die Funktionstauglichkeit und Sicherheit, die Erfüllung der Qualitätsanforderungen nach Absatz 2 und, soweit erforderlich, den medizinischen Nutzen nachgewiesen hat und es mit den für eine ordnungsgemäße und sichere Handhabung erforderlichen Informationen in deutscher Sprache versehen ist.“
Auf dieser Basis hat der GKV-Spitzenverband konkrete, Produktgruppen-übergreifende Anforderungen in seiner Verfahrensordnung zur Erstellung und Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses definiert:
6.1 Anforderung: Funktionstauglichkeit und Sicherheit
Bei zugelassenen Medizinprodukten gelten die Funktionstauglichkeit und die Sicherheit bereits mit der CE-Kennzeichnung als nachgewiesen, auch wenn zusätzliche Prüfungen in Verdachtsfällen möglich sind.
Die Definition von Medizinprodukten für das Hilfsmittelverzeichnis (HMV) bezieht sich auf das Medizinproduktegesetz (MPG) und nicht die Medical Device Regulation (MDR). Der Grund dafür liegt darin, dass die MDR auch Produkte einschließt, die dem Begriff der Arzneimittel zugeordnet werden könnten, was für Hilfsmittel einen zu weit gefassten Rahmen darstellt. Allerdings gelten für den Nachweis der Funktionstauglichkeit und Sicherheit bei Aufnahmeanträgen die Regelungen der MDR, einschließlich der dort beschriebenen Konformitätsbewertungsverfahren.
Für Hilfsmittel, die keine Medizinprodukte darstellen, erstellt der GKV-Spitzenverband konkrete Anforderungen an die Funktionstauglichkeit und Sicherheit in den einzelnen Produktuntergruppen des HMV. Diese finden sich in den Dokumenten zu den Fortschreibungen der Produktgruppen.
Ein Hilfsmittel muss also nicht zwingend auch ein zertifiziertes MDR-Medizinprodukt sein.
6.2 Anforderung: Besondere Qualitätsanforderungen
Die besonderen Qualitätsanforderungen werden Indikations- oder einsatzbezogen festgelegt. Der GKV legt entsprechende Qualitätsanforderungen und das Nähere zum Nachweis der Erfüllung dieser Anforderungen in den Produktuntergruppen des HMV (ggf. mit der Beschreibung von Prüfverfahren) und den dazu gehörenden Antragsformularen fest. Die genauen Anforderungen finden sich ebenfalls zu jeder Produkt(unter-)gruppe auf der Webseite des GKV.
6.3 Anforderung: Medizinischer Nutzen
Der Nachweis des medizinischen Nutzens eines Hilfsmittels ist gemäß § 139 SGB V erforderlich, wenn das Hilfsmittel nicht nur dem Behinderungsausgleich dient, sondern auch im Rahmen einer ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt werden soll.
Falls das Hilfsmittel untrennbar mit einer neuen, in der ambulanten Versorgung noch nicht anerkannten Behandlungsmethode verbunden ist, darf es erst ins HMV aufgenommen werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Methode positiv bewertet hat.
Gelangt der GKV-Spitzenverband zu der Einschätzung, dass das Hilfsmittel als untrennbarer Bestandteil einer neuen Methode anzusehen ist, teilt er das dem Hersteller mit und veranlasst gleichzeitig eine Auskunft durch den G-BA.
Wenn das Hilfsmittel bewährte Methoden verwendet, müssen wissenschaftliche Studien seinen medizinischen Nutzen bestätigen – gemäß des “aktuellen, allgemein anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse”. Eine einzelne Studie reicht nicht. Die Methode muss sich etabliert haben.
6.4 Anforderung: Gebrauchsanweisung
HMV-Produkte müssen Informationen auf Deutsch enthalten, die eine sichere und korrekte Nutzung gewährleisten. Diese Angaben – je nach Produktgruppe im HMV spezifiziert – umfassen Anwendungshinweise, Indikationen, Risiken, Kontraindikationen sowie Anweisungen zu Betrieb, Reinigung, Desinfektion, Montage und Material, sofern der Hersteller diese Anforderungen nachgewiesen hat.
7. Antrag zur Aufnahme ins Hilfsmittelverzeichnis
Schauen wir uns jetzt, wie viel Zeit der Prozess zur Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis in Anspruch nimmt – und wie die einzelnen Schritte konkret aussehen:
- Antragstellung: Der Antrag auf Aufnahme muss vom Hersteller oder einem beauftragten Dritten gestellt werden. Dieser Antrag kann online über die Plattform des GKV-Spitzenverbands eingereicht werden. Davor sollte selbstverständlich sichergestellt sein, dass die nötigen Anforderungen (siehe obige Kapitel) erfüllt sind.
- Prüfung: Der GKV-Spitzenverband erteilt dem Antragsteller innerhalb von zehn Werktagen nach Antragseingang eine Eingangsbestätigung und stellt innerhalb von zehn Wochen fest, ob der Antrag formal vollständig ist. Dabei handelt es sich allein um die formale Feststellung der Vollständigkeit, nicht um die inhaltliche Vollständigkeit des Antrags. Werden unvollständige Unterlagen eingereicht, gibt es eine Frist von bis zu sechs Monaten, um diese nachzureichen.
- Entscheidung: Wird alles fristgerecht eingereicht, entscheidet der GKV innerhalb von drei Monaten über den Antrag und informiert den Antragsteller über den Ausgang des Verfahrens.
- Erfolg der Aufnahme: Wenn das Produkt aufgenommen wird, erhält es eine individuelle Nummer und wird im Hilfsmittelverzeichnis sowie im Bundesanzeiger veröffentlicht.
Der gesamte Prozess dauert aufgrund der komplexen Bewertung und eventuell notwendigen Rückfragen durchschnittlich zwischen sechs und zwölf Monaten.
8. Vergütung und Preisfindung mit den Krankenkassen
Die Aufnahme eines Produkts ins Hilfsmittelverzeichnis (HMV) ist ein wichtiger Schritt, garantiert jedoch noch keine automatische Erstattung. Bevor Versicherte das Produkt über die Krankenkassen beziehen können, muss die Vergütungshöhe geklärt werden. Hersteller haben verschiedene Optionen, um dies zu erreichen.
8.1 Beitritt zu existierenden Verträgen
Für viele Produktgruppen existieren bereits Rahmenverträge zwischen Krankenkassen oder deren Verbänden und den Hilfsmittel-Herstellern. Als Hersteller eines Hilfsmittels haben Sie die Möglichkeit, diesen Verträgen beizutreten, wenn ein entsprechender Vertrag für Ihre Produktgruppe verfügbar ist.
Einerseits ermöglicht diese Option Ihnen einen schnellen Marktzugang, da keine neuen Verhandlungen mit einzelnen Krankenkassen erforderlich sind. Die Rahmenverträge regeln die Details der Versorgung, einschließlich der Vergütung. Auf der anderen Seite könnten die festgelegten Vergütungssätze in den Verträgen für Ihr Produkt ggf. unpassend bzw. zu niedrig sein.
Eine Anlaufstelle hierfür ist der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek). Hersteller können den bereits verhandelten Verträgen des vdek beitreten. Mehr Informationen bezüglich Verträgen des vdek finden Sie hier.
8.2 Einzelvereinbarungen zur Vergütung
Wenn keine passenden Verträge existieren oder Sie spezielle Konditionen benötigen, können individuelle Einzelvereinbarungen mit den Krankenkassen getroffen werden. Diese Option bietet mehr Flexibilität, erfordert jedoch einen erheblichen Zeitaufwand. Jede Krankenkasse muss einzeln kontaktiert und überzeugt werden.
Einzelvereinbarungen sind vor allem dann sinnvoll, wenn Ihr Produkt einzigartig ist und nicht in eine bestehende Produktgruppe mit Rahmenverträgen passt. Gemäß § 127 Abs. 3 SGB V sind Krankenkassen verpflichtet, individuelle Vereinbarungen zu treffen, wenn keine passenden Verträge bestehen und eine Versorgung der Versicherten anders nicht möglich ist.
8.3 Festbeträge für Produktgruppen
Für viele Hilfsmittel legt der GKV-Spitzenverband Festbeträge fest, welche den maximalen Erstattungsbetrag definieren. Trotz dieser Festbeträge müssen Hersteller Verträge mit den Krankenkassen oder deren Verbänden abschließen bzw. bestehenden Verträgen beitreten, um Ihre Produkte an Versicherte abgeben zu können. Die Festbeträge dienen dabei als Höchstgrenze für die Vergütung. Es ist allerdings auch möglich, niedrigere Vergütungen zu vereinbaren, um bspw. im Preiswettbewerb einen Vorteil zu erlangen.
Festbeträge setzen neben der Obergrenze für die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gleichermaßen den maximalen Anspruch der Versicherten auf Versorgung. Möchten Versicherte eine Versorgung in Anspruch nehmen, die über den Festbetrag hinausgeht, müssen sie die Differenz aus eigener Tasche zahlen. Die definierten Festbeträge finden sich auf der Webseite des GKV.
9. Fortschreibung der Produktgruppen
Alle 5 Jahre wird die grundsätzliche Fortschreibung der Produktgruppe (und das Anforderungsprofil) überprüft.
Das bedeutet für die Hersteller: Der GKV-Spitzenverband kann zum Zweck der Fortschreibung von Ihnen die „zur Prüfung der Anforderungen des HMV erforderlichen Unterlagen“ erneut einfordern.
Der GKV-Spitzenverband teilt Ihnen hierzu in einem Schreiben die Nachweisunterlagen mit, die benötigt werden, und bis zu welcher Frist diese einzureichen sind.
Sollte diese Prüfung nicht erfolgreich für Sie verlaufen, wird Ihr Produkt gemeinsam mit der Erstattungsfähigkeit aus dem Hilfsmittelverzeichnis entfernt.
10. Beispiele: Gelistete Software-Produkten im Hilfsmittelverzeichnis
Es ist gar nicht so leicht, Standalone Software-Hilfsmittel – also Software, die ohne die Kopplung an ein spezifisches, physisches Gerät auskommt, im Hilfsmittelverzeichnis zu finden.
In der Produktgruppe 16 „Kommunikationshilfen“ wird man jedoch fündig. Speziell die Untergruppe 5 „Behinderungsgerechte Software für Kommunikationssysteme“ ist hier interessant. Hier finden sich derzeit (Stand: 2. Dezember 2024) acht Softwareprodukte:
- OnScreenKeys
- Meine-eigene-Stimme, Version 2+
- OnScreenCommunicator
- WorldWide
- MULTiTEXT ohne Sprachausgabe
- MULTiTEXT mit Sprachausgabe
- MULTiTEXT mit Bildschirmtastatur ohne Sprachausgabe
- MULTiTEXT mit Bildschirmtastatur mit Sprachausgabe
Produktgruppe 99 – Verschiedenes:
- VisioCoach – Augenbewegungs-Training
Auch wenn diese Liste nicht vollständig ist: So viel mehr Standalone-Software-Produkte finden sich leider aktuell nicht im Hilfsmittelverzeichnis. Hierbei ist zu bedenken, dass das Hilfsmittelverzeichnis schon deutlich länger als z. B. das DiGA-Verfahren beim BfArM existiert. Dennoch gibt es kaum Standalone-Software oder mobile Apps im Verzeichnis.
Was sich allerdings sehr häufig finden lässt, sind Hardware-Software-Kombinationen. Produkt-Kombinationen, wo z. B. eine mobile App die Steuerung eines elektronischen Geräts übernimmt, gibt es in großen Zahlen im Hilfsmittel-Verzeichnis.
Woran liegt es aber, dass es so wenig Standalone-Software gibt?
11. Warum gibt es kaum Standalone-Software im Hilfsmittelverzeichnis? (Hürden)
Woran liegt es nun also, dass es bisher verhältnismäßig wenig Standalone-Softwareprodukte in das Hilfsmittelverzeichnis geschafft haben?
Grund 1: Fehlende passende Produktgruppen
Oftmals sind in einer Produktuntergruppe definitorisch komplette Systeme – beispielsweise ein iPad inklusive Kommunikationssoftware oder ein Notrufsystem mit Tracker am Handgelenk – gefordert. Das lässt wenig Spielraum, eine reine Softwarelösung in einer Produktgruppe unterzubringen.
Der Standalone-Software-Hersteller müsste also eine neue Produktuntergruppe beantragen. Bis zur erfolgreichen Erstellung dieser Produktuntergruppe können viele Jahre vergehen, was diesen Prozess beispielsweise für Start-ups unpraktikabel macht.
Grund 2: Festgelegte preisliche Höchstbeträge
Die definierten Festbeträge, die ursprünglich für physische Produkte oder traditionelle medizinische Hilfsmittel festgelegt wurden, spiegeln oft nicht die Besonderheiten und den Wert heutiger Softwareprodukte wider. Etwa die hohen Entwicklungskosten, der kontinuierliche Wartungsaufwand oder die laufenden Updates, die bei Software oder mobilen Apps essenziell sind, werden hier nicht abgedeckt und berücksichtigt. Aus diesem Grund kann es für Hersteller von Softwareprodukten unattraktiv oder gar wirtschaftlich unrentabel sein, ihre Produkte in solchen Kategorien listen zu lassen. Die Festbeträge setzen eine Obergrenze für die Erstattung, die möglicherweise deutlich unter den tatsächlichen Kosten oder dem Marktwert der Software liegt.
Grund 3: Aufwändiger Prozess für Einzelvereinbarungen zur Höhe der Erstattungsbeträge
Ohne Beitritt zu einem existierenden Vertrag muss der Hersteller erhebliche zusätzliche Ressourcen in Verhandlungen von Einzelvereinbarungen investieren, was einerseits die finanziellen Kosten erhöht und andererseits den Marktzugang verzögern kann.
In der Praxis zeigt sich außerdem: Die Chancen, eine Einzelvereinbarung mit einer Krankenkasse zu treffen, sofern es geeignete bestehende Verträge für die Produktgruppe gibt, sind äußerst gering. Zudem ist der Ressourcenaufwand für die Verhandlung einer Einzelvereinbarung nicht zu unterschätzen.
Vielen Dank an dieser Stelle an Christoph Müller, Vorstandsvorsitzender des Bundesfachverbands Elektronische Hilfsmittel e.V. (BEH), für die zahlreichen Informationen und das Mitwirken an diesem Fachbeitrag.
12. Weitere Wege in die Kostenerstattung durch Krankenkassen
Neben dem Hilfsmittelverzeichnis gibt es außerdem einige weitere Wege, die Software-Herstellern die Kostenerstattung im deutschen Gesundheitssystem ermöglichen. Dazu gehören unter anderem:
- Digitale Gesundheitsanswendungen – DiGA-Verfahren: Zu unserem Leitfaden
- Selektivverträge mit Krankenkassen: Zu unserem Leitfaden
- Zentrale Prüfstelle Prävention (ZPP): Zu unserem Leitfaden
- Digitale Pflegeanwendungen – DiPA-Verfahren: Zu unserem Leitfaden
13. Fazit: Lohnt sich das Hilfsmittelverzeichnis für Software-Hersteller?
Zusammenfassend lässt sich sagen: Es lohnt sich, als Hersteller einer medizinischen Software einen Blick auf das GKV-Hilfsmittelverzeichnis zu werfen.
Wichtig ist hierbei, dass Ihr Produkt zum Charakter eines Hilfsmittels und gleichzeitig in eine existierende Produktgruppe passt. Außerdem sollten Sie vorab prüfen, ob ggf. Festbeträge für Ihr Produkt gelten und ob diese für Ihr Unternehmen ausreichend sind.
Unter den richtigen Umständen eröffnet sich hier ein geeigneter Erstattungsweg in die Regelversorgung. Dieser Weg ist für geeignete Produkte sogar deutlich schneller als die Aufnahme in das mittlerweile stark regulierte DiGA-Verzeichnis.
DiGA-Hersteller könnten jedoch auf Herausforderungen stoßen, wenn sie eine Listung im HMV anstreben. Der Fokus von DiGA liegt in der Regel auf therapie- und behandlungsorientierten Zielen, während das Hilfsmittelverzeichnis primär auf unterstützende Anwendungen ausgerichtet ist, die Behinderungen oder Einschränkungen ausgleichen. Dieser unterschiedliche Schwerpunkt macht eine Aufnahme ins HMV für DiGA oft wenig naheliegend.
Produkte, bei denen eine Software die Steuerung eines elektronischen, physischen Hilfsmittels übernimmt, sind wiederum gut geeignet, um als Teil des Hilfsmittel-Verzeichnisses erstattet zu werden.
Wenn Sie eine medizinische Software planen und einen Entwicklungspartner suchen, kontaktieren Sie uns gern. Als spezialisierter Dienstleister liegt unser Fokus auf der regulatorisch-konformen Entwicklung von medizinischen Apps und Gesundheitssoftware. Wir helfen Ihnen, ein Produkt zu planen und umzusetzen, das am Ende erstattungsfähig und im Gesundheitsmarkt erfolgreich ist.